Was ist Freundschaft? / Kurzgeschichte
Als ich heute anfing, mit dem Bügeleisen die Falten aus meiner Wäsche zu bügeln, dachte ich an meine allerbeste Freundin. Sie hat so gerne gebügelt und mich immer ausgelacht, wenn ich das Bügeleisen am liebsten in die Ecke geworfen hätte.
Ich muss leider sagen, dass sie gerne gebügelt hat, denn sie lebt schon seit 16 Jahren nicht mehr.
Ich denke oft an sie. Wir lernten uns schon als Babys kennen. Fünfzig Jahre lang war sie meine allerbeste Freundin.
Sie war ein toleranter liebenswerter Mensch und hat mich und mein Leben wohlwollend begleitet. Meine Familie gehörte zu ihrem Leben und ich zu ihrer Familie. Bereits als Kinder verbrachten wir fast jeden Tag miteinander.
Durch sie lernte ich meinen Schatz kennen.
Sie hatte nicht lockergelassen und uns miteinander verkuppelt. Ihre Menschenkenntnis hatte ihr signalisiert, dass er und ich füreinander geschaffen waren. Inzwischen verdanken wir ihr 50 glückliche Ehejahre.
Ich bekam meinen Sohn sehr früh, sie den ihren recht spät. Sie studierte und wurde Lehrerin und ich eine total glückliche Ehefrau und Mutter.
Eigentlich waren wir uns nicht so besonders ähnlich, aber wir verstanden uns trotzdem ganz wunderbar. Wir erlebten die Tiefen und Höhen in unserem Leben miteinander, stützten uns in schweren Zeiten und freuten uns miteinander in den guten Tagen.
Wir haben uns geachtet und respektiert und uns einfach von Herzen gemocht.
Als sie relativ jung, ganz plötzlich verstarb, brach eine Welt für mich zusammen. Sie lag einige Tage im Koma und ihre Familie erlaubte es mir, an ihrem Bett zu sitzen. Ich habe ihr von unserer schönen Zeit erzählt und mich für ihre wunderschöne Freundschaft bedankt. Auf ihrer Beerdigung wurde diese Herzens-Freundschaft erwähnt, was mich glücklich und stolz gemacht hat.
In den letzten Monaten dachte ich noch mehr als sonst an sie.
Die Corona Krise hat mir Menschen von einer Seite gezeigt, die ich oft lieber nicht gesehen hätte.
Vieles, was sie von sich gaben, war so überhaupt nicht mein Gedankengut. Am Anfang habe ich bei Facebook noch auf Posts, die mir vollkommen fremd waren, geantwortet. Ich musste dann feststellen, dass ich heftig angegangen wurde, und ich ließ es bleiben, meine Meinung kundzutun. Diejenigen, die davon predigen, jeder darf seine Meinung haben, wollen aber oft nur, dass jeder ihre Meinung vertritt. Wenn es nicht so ist, dann werden sie ausfallend und beleidigend. Das wollte ich mir nicht mehr antun. Außerdem habe ich bemerkt, es tut mir nicht gut, mich mit einem Gedankengut zu befassen, das ich in keiner Weise nachvollziehen kann.
Meine wunderbare Freundin hat mir damals schon gezeigt, wir müssen nicht immer die gleiche Meinung haben, um so liebevoll befreundet zu sein. Ich nenne einige Menschen meine Freunde, deren Gedankengut in gewisser Hinsicht nicht dem meinem entsprechen. Aber dennoch liebe ich ihre weiche und hilfsbereite Seite. Ich schätze die schönen entspannten Stunden, die wir miteinander verbracht haben und hoffentlich noch weiter verbringen werden.
Krisenzeiten sind manchmal schwierig,
was den Umgang mit anderen Personen angeht. Wir Menschen sollten aber schon differenzieren, ob man eine gemeinsame Einstellung zu vielen Dingen im Leben hat und nur in einigen Gedankengängen keine Einheit erzielen kann. Ich habe mich schon lange dafür entschieden, den „Ganzen Menschen“ zu sehen und nicht nur einige Gedanken und Auffassungen. Es muss ja nicht zu meinem Gedankengut werden. Denn, um einige Gesichtspunkte einfach nur nachzuplappern, dafür bin ich eine zu starke Person und stehe zu meiner Meinung und Erfahrung. Eine gute Freundschaft hält es aus und man muss über Dinge, die nicht den eigenen Gedanken entsprechen, auch keine großen Diskussionen führen.
Bei Facebook halte ich mich sehr zurück, obwohl es mir manchmal in den Fingern juckt, meine Meinung zu schreiben. Dafür ist mir meine Lebenszeit aber inzwischen zu schade. Meine liebe Freundin sagte immer: „Nur nicht ignorieren.“ Sie meinte damit, es hat keinen Zweck, sich mit Menschen anzulegen, die nur ihre Meinung zulassen. Die merkwürdig reagieren, vertritt man selbst nicht ihre Meinung. Solche Menschen kann ich inzwischen sehr gut loslassen. Aber nur dann, wenn sie von mir erwarten, ich müsste ihrem Gedankengut folgen. Das hat für mich nichts mit Freundschaft zu tun.
Ich wünsche euch allen eine Freundin,
wie ich sie 50 Jahre lang haben durfte. Tolerant und liebevoll. Ich hatte das Glück, bin dankbar und immer noch traurig, dass wir nicht mehr als alte Damen auf einer Bank sitzen können, um zu sagen: „Weißt du noch, damals?“
Dieser Wunsch, den wir gemeinsam hatten, erfüllt sich nicht. Aber das Gefühl, wie wichtig eine gute Freundschaft ist, habe ich durch sie erfahren dürfen. Und genauso pflege ich meine langjährigen und neuen Freundschaften auch heute noch. Ich hoffe, meine Freunde sehen das auch so, glaube es aber schon.
Jutta Reinert
Bücher
Schwiegermütter machen dick
Mama, ab heute heißt du Oma
Am Ende steht ein neuer Anfang
Ich bin gegangen von Jutta Reinert