<<< Leseprobe Roman " Ich bin gegangen " >>>
Der Sommer ging langsam in einen kühlen Herbst über, als mir auffiel, wie bedrückt mein sonst so fröhlicher Sohn wirkte.
Fragte ich ihn, ob ihn Sorgen quälten, schüttelte er den Kopf.
„Es geht mir gut Mam, keine Angst."
Angst hatte ich nicht um ihn, er war gefestigt und so leicht würde ihn nichts umhauen. Es tat mir nur weh, ihn unglücklich zu sehen, obwohl ich natürlich wusste, zu jedem Leben gehören auch Regentage. Für niemanden scheint jeden Tag von morgens bis abends nur die Sonne. Und wie heißt es so schön. 'An den Prüfungen des Lebens reift der Mensch.'
Marion wurde immer durchsichtiger. Sie erschien mir noch dünner und trauriger als zu der Zeit, als ich sie das erste Mal gesehen hatte. Ich spürte, es bedrückte die beiden jungen Menschen etwas. Was war es nur?
Nach einigen Tagen stellte Marion mir die Frage, ob ich mit meinem Mann zusammen ihre Eltern besuchen würde.
„Ich habe zuhause schon gefragt. Meinen Eltern würde der nächste Samstag gut passen." Sie fügte hinzu: „Bitte, es würde mir viel daran liegen."
Begeistert war ich von der Idee nicht. Aber ich wollte ihr eine Freude machen und sagte zu.
„Bestell deinen Eltern einen schönen Gruß. Mein Mann und ich kommen gerne und frag sie, ob zwanzig Uhr recht ist?"
„Ja prima, und vielen Dank."
Ihre Augen funkelten, und ich überlegte, warum ihr so viel an der Begegnung liegen könnte. Auch mein Mann war nicht begeistert, einen der wenigen freien Abende, die wir für uns hatten, mit Menschen zu verbringen, die wir nicht kannten. Außerdem war ihm die Lebenseinstellung der Eltern von Marion und wie sie mit ihrer Tochter umgingen sehr suspekt.
Wir nahmen uns allerdings vor, unvoreingenommen hinzugehen und Marions Eltern kennenzulernen. Wer weiß, dachte ich bei mir, vielleicht ist Marion auch nur überempfindlich und sie sind nicht so schlimm, wie Marion behauptet.
Am Samstag bewaffnete ich mich mit einem Blumenstrauß für Marions Mutter und mein Mann und ich fuhren zusammen mit unserem Sohn los.
Mit kleinen unbeholfenen Schritten, die Gesichtszüge verkrampft, stieg ich aus dem Auto und lief die wenigen Schritte bis zur Haustür halbwegs ungelenk. Ich
war derart nervös, dass mir dabei meine Handtasche in den Schmutz fiel.
Von außen war uns Marions Elternhaus schon bekannt, schließlich brachten wir sie fast täglich abends mit dem Auto nach Hause.
Es war ein eckiger Kasten mit einem oberen Stockwerk. Von außen ein einfaches, schmuckloses Haus.
Wir hatten die Haustür noch nicht erreicht, als Marion sie schon von innen aufriss. Ein glückliches Gesicht machte sie dabei nicht. Sie sah aus, als hätte sie kurz zuvor geweint. Sie führte uns in einen dunklen, ein wenig muffig riechenden Flur. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Ich verstand selbst nicht, warum ich so aufgeregt war. Ich muss damals schon gespürt haben, dass von den beiden Menschen, die uns nun auf dem dunklen Flur steif willkommen hießen, nichts Gutes ausging.
Ich riss mich zusammen und versuchte mein schönstes Lächeln aufzusetzen.
Heute bin ich froh, mich nicht im Spiegel gesehen zu haben. Ich glaube, ich hätte mich kaum wiedererkannt. Mein Lächeln war an diesem Abend kläglich ausgefallen. Ich fühlte mich unwohl und das Gesicht meines Sohnes sprach ebenfalls Bände. Nur wer meinen Mann so gut kennt wie ich, merkte, auch er fühlte sich unwohl in seiner Haut.
Wir wurden in ein Wohnzimmer geführt, das mir mit seinen vielen Nippes Figuren völlig überladen erschien.
Marions Vater bat uns Platz zu nehmen. Ich setzte mich an den äußersten Rand des Sofas und wagte kaum, mich zu rühren. Die Situation kam mir vor wie die eines jungen Mädchens beim ersten Besuch der zukünftigen Schwiegereltern.
Ich weiß nicht, was es war, aber Marions Eltern lösten in mir ein großes Missbehagen aus. Ich war so nervös, dass ich, als ein Getränk vor mir stand, das Glas umstieß. Mein Herz blieb für einen Moment stehen. Ich sah Marion an, die mir erzählt hatte, sie würde in ihrem Elternhaus laufend etwas verschütten. Marions Gesicht war weiß geworden. Erschrocken starrte sie mich an.
Ihre Stiefmutter sprang auf und holte, ohne ein Wort zu sagen ein Tuch, mit dem sie die Flüssigkeit hektisch auftupfte. Ihr Vater lächelte säuerlich und sagte mit erstickter Stimme: „Es ist weiter nichts passiert. Diese Ungeschicklichkeit kennen wir von unserer Tochter“.
Ständig stößt sie etwas um“, ließ sich die unangenehme Stimme ihrer Mutter vernehmen.
Wieder erschien ein unsicheres, ich glaube etwas dümmlich wirkendes Lächeln auf meinen Lippen.
„Tut mir sehr leid, ich bin sonst nicht so ungeschickt."
Die Stimmung war durch meine Ungeschicklichkeit auf dem Nullpunkt.
Ich konnte Marion jetzt gut verstehen, wie sollte sie sich in dieser Umgebung
wohlfühlen. Ihre Stiefmutter beobachtete mich ständig mit zusammengekniffenen Augen, die in ihrem breitflächigen Gesicht wie kleine Schlitze aussahen. Deutlich war ihre Abneigung uns gegenüber zu erkennen. Marions Vater unterhielt sich höflich mit uns. Ihn fand ich nicht so unsympathisch, wie ich ihn nach Marions Erzählungen eingeordnet hatte.
In einem hatte sie aber recht, ihre Eltern waren furchtbar lieblos ihr gegenüber. Wenn Marion etwas zur Unterhaltung beitragen wollte, wurde sie unwirsch von ihrer Mutter unterbrochen. Ihr Vater unterbrach sie zwar nicht, zog aber alles, was Marion zum Besten gab, ins Lächerliche.
Ich fragte mich, was für einen jungen Menschen wohl schwerer zu ertragen ist, eine Mutter, die sie ignoriert, oder ein Vater, der sich lustig über sie macht.
Unser Sohn sprach kein Wort. Sein sonst freundlicher Blick war eisig. Er sah ein wenig leblos aus. Marions Vater sprach ihn nach einigen Minuten des Schweigens mit kalter herrischer Stimme an.
„Warum arbeitest du eigentlich nicht?"
Ich wartete gespannt auf die Antwort meines Sohnes. Kochte er innerlich genauso wie ich?
Ruhig antwortete er. „Wie kommen sie darauf, dass ich nicht arbeite. So lange ich auf meinen Ausbildungsplatz als Masseur warten muss, arbeite ich jeden Tag im Geschäft meiner Mutter."
Ich war stolz auf ihn. Seine Stimme war weder erregt noch unfreundlich, er sprach zwar kühl, aber höflich. Von Marion wusste ich, ihre Eltern hatten unseren Sohn als berufslosen Jüngling bezeichnet. Und Masseur zu werden, war in ihren Augen genauso unehrenhaft wie der Beruf, den ich ausübte. Ich kochte fast über, hielt mich aber Marion zuliebe zurück.
Mein Mann fasste nach meiner Hand, ich war glücklich, dass er neben mir saß. Er wusste, was ich dachte. Marions Eltern waren genauso selbstherrlich wie meine Schwiegereltern und davon überzeugt, nur ihre Meinung sei die richtige.
Ich stehe auf dem Standpunkt, jeder Mensch hat das Recht auf seine eigene und freie Meinung. Diese Meinung darf aber keinem anderen Menschen aufgezwängt werden. Jedoch sah ich mich hier auch Menschen gegenüber, die nur ihre eigene Meinung als die allein selig machende ansahen.
Ich bewunderte meinen Mann, als er freundlich und beherrscht sagte: „Unser
Sohn ist ein fleißiger junger Mann, der sich vor keiner Arbeit scheut."
„Wir wollen ihren Sohn auch nicht angreifen“, ereiferte sich Marions Mutter, „aber Masseur ist kein Beruf." Jetzt war es um mich geschehen. Ich hielt mich nicht mehr zurück.
„Ich finde, sie haben ungeheuerliche Vorurteile und glaube, es ist besser, wir wechseln das Thema."
Der Abend schleppte sich dahin. Ich blieb nur aus Höflichkeit und um Marion nicht noch mehr zu belasten.
Ihre Eltern bemühten sich von da an etwas freundlicher zu sein. Sie stellten uns viele Fragen, die unser Leben betrafen und wurden von meinem Mann meistens höflich beantwortet.
Ich fühlte mich unbehaglich und entdeckte Ähnlichkeiten zwischen meinen Schwiegereltern und Marions Eltern, die mich erschreckten. Aber sie sollten sich auch später, hinter unserem Rücken, gegen uns zusammentun.
In der folgenden Nacht konnte ich nicht schlafen. Mein Herz klopfte wie wild. Es ging mir so schlecht wie sonst, wenn ich von meinen Schwiegereltern schlecht behandelt wurde.
Ich wünschte mir in dieser Nacht, Oliver hätte Marion nie kennengelernt. Zu gerne hätte ich den beiden die Demütigungen erspart, denen ich seit fast zwanzig Jahren durch die Eltern meines Mannes ausgesetzt war.
Ich spürte, es würde noch viel Unangenehmes auf uns zukommen. Marions Eltern hatten sich als unbeugsame harte Menschen geoutet. Menschen, denen ich unter normalen Umständen aus dem Weg gegangen wäre. Aber ich hatte das Gefühl, oder besser gesagt, irgendwie wusste ich, Marion und Oliver würden nicht wieder auseinandergehen.
Würden sie den Kränkungen von Marions Eltern genauso ausgeliefert sein, wie seinerzeit mein Mann und ich, denen durch die Eltern meines Mannes?
Sollte sich das Schicksal zwanzig Jahre später auf ähnliche Weise wiederholen? Mit zwei noch sehr jungen Menschen, deren einziges 'Verbrechen' es war, sich zu mögen, auch wenn es den Eltern des Mädchens nicht gefiel.
Hatte ich die Kraft, meinen Sohn zu schützen? Gegen meine Schwiegereltern war es mir nicht möglich gewesen. Meine Seele war noch immer angegriffen und verwundet, obwohl es mir schon wieder erheblich besser ging und ich anfing, mich wieder an meinem Leben zu erfreuen.
Es schüttelte mich bei dem Gedanken, dass mein Mann Marions Eltern höflich zu einem Gegenbesuch eingeladen hatte.
Natürlich handelte er richtig. Ich nahm mir fest vor, zu versuchen, mit Marions
Eltern auszukommen. Angst würgte mich, ich wollte in Ruhe leben. Es sollte mir allerdings noch eine ganze Weile nicht gelingen.
Von diesem Abend hatte ich mir viel versprochen und dann dieses Fiasko. Ich schämte mich und es war mir entsetzlich peinlich, wie meine Eltern sich benommen hatten. Ich hätte wissen müssen, dass ein Abend mit ihnen und Olivers Eltern nicht gutgehen konnte. Die Einstellung der beiden Elternpaare war zu gegensätzlich, um sie zusammenzubringen.
Als Olivers Eltern gingen, verabschiedeten sie sich von mir mit einem Kuss auf die Wange. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie sich die Lippen meiner Stiefmutter zu einem hämischen Grinsen verzogen.
Ich fror, als ich die eisigen Mienen meiner Eltern sah, nachdem sich die Tür hinter Oliver und seinen Eltern geschlossen hatte.
„Die Frau ist unmöglich", wetterte meine Stiefmutter, „der Vater geht noch, aber bei ihr geht alles nur um Gefühle und dass es ihrem herzigen Sohn gut geht. Sie sieht abenteuerlich aus, mit ihrem bemalten Gesicht, und von Figur kann man bei ihr auch nicht sprechen."
‚Du hast es nötig', dachte ich. Meine Stiefmutter hatte nämlich auch keine gelungene Figur. Es ärgerte mich, dass gerade sie sich erhob, etwas gegen das Äußere von Olivers Mutter zu sagen.
Auch ohne ganz schlank zu sein war sie im Gegensatz zu meiner Stiefmutter eine sehr gepflegte Erscheinung.
Ich verabschiedete mich schnell und legte mich in mein Bett. Wieder einmal weinte ich mich in den Schlaf.
Am nächsten Tag sprachen wir zuhause über das Auto von Olivers Eltern. Ich sagte: „Sie haben einen Audi 90 mit 136 PS."
„So ein Auto gibt es nicht! Das kann höchstens ein Audi 80 sein. Du hast wie üblich keine Ahnung und sprichst über Dinge, die du nicht kennst“, fuhr mein Vater mich herrisch an.
„Ich weiß es ganz genau. Olivers Vater hat es mir erzählt. Und er wird wohl wissen, was für ein Auto er fährt."
„Gib Ruhe, du hast keine Ahnung. Dein Vater hat recht“, wies meine Stiefmutter mich zurecht.
Es war so erniedrigend. Ich wusste genau, dass es stimmte. Olivers Vater hatte mir alles genau erklärt, weil mir sein Auto so gut gefiel. Die Scheibe Brot auf meinem Teller blieb liegen. Mein Magen krampfte sich zusammen, ich konnte
nichts mehr essen. Es gelang meinen Eltern immer wieder, mich klein zu machen und mir jegliches Selbstbewusstsein zu nehmen. Heute weiß ich, wenn einem Menschen ständig gesagt wird, er wäre dumm und frech, verfestigt sich diese Aussage im Gehirn und diese Person glaubt tatsächlich sie wäre nichts wert.
Wie gut, dass ich meinen Freund hatte. Erzählte ich ihm diese Dinge, lachte er mich liebevoll an und sagte: „Du bist nicht dumm, dir fehlt nur ein gesundes Maß an Selbstbewusstsein. Aber keine Angst, das bauen wir dir wieder auf."
Er konnte auch nicht begreifen, wie schrecklich ich mich darüber aufregte, dass mein Vater mir die Sache mit dem Auto nicht abnehmen wollte.
„Du hast recht, mein Schatz, mein Vater fährt einen Audi 90, dein Vater ist nicht auf dem neuesten Wissenstand. Darüber solltest du dich nicht aufregen, das ist völlig unwichtig."
Für ihn war es unwichtig. Er wurde auch nicht ständig von seinen Eltern heruntergeputzt und als dämlich abgestempelt.
Für den heutigen Tag hatte ich mir vorgenommen, ihm die Wahrheit über Rena zu sagen. Er sollte endlich wissen, dass sie nicht meine richtige Mutter ist. Doch wo er jetzt vor mir stand, wusste ich nicht, wie ich es ihm sagen sollte. Seit er bei uns zuhause war, wirkte er verändert. Viel gesagt hatte er zwar nicht, aber mir war nicht entgangen, wie wenig es ihm in meinem Elternhaus gefallen hatte.
Wir saßen in seinem Wohnzimmer und ich begann mit stotternder Stimme.
„Du Olli, ich muss dir etwas erzählen, erschrick aber bitte nicht."
„So leicht haut mich nichts aus den Pantoffeln, also, um was geht es."
„Wie gefällt dir meine Mutter?"
Er druckste herum und wand sich wie ein Aal.
„Ich will dich nicht kränken, aber du möchtest sicher eine ehrliche Antwort von mir. Frei heraus, ich finde sie sehr unsympathisch. Allerdings kenne ich sie zu wenig, um mir ein abschließendes Urteil zu erlauben. Auf mich macht sie einen kalten und herrischen Eindruck. Es passt zu dem, was du mir von ihr erzählt hast." „Und deine Eltern, was haben sie gesagt?", wollte ich ängstlich wissen.
„Nicht viel. Mein Vater meinte nur, er glaube kaum mit deinen Eltern warm werden zu können. Wenn ich recht überlege, hat auch meine Mutter wenig gesagt. Ich glaube, ihr gefiel dein Vater besser, wobei sie kein negatives Wort über deine Mutter verloren hat. Sie findet nur, dass du mit deiner Mutter weder innerlich noch äußerlich Ähnlichkeit hast."
„Das sieht sie richtig", sagte ich leise. „Rena ist meine Stiefmutter. Meine richtige Mutter ist gestorben, als ich zwölf war."
Gespannt wartete ich auf Olivers Reaktion. Auf einmal fing er laut an zu lachen. Verlegen stimmte ich in sein Lachen ein, obwohl ich mir nicht erklären konnte, warum er so herzlich darüber lachte.
„Na, Gott sei Dank! Sie ist nicht deine Mutter. Das freut mich. Mein Opa hat ein paar Mal zu mir gesagt: „Schau dir die Mutter deiner Freundin genau an, dann weißt du, wie die Tochter später einmal wird.“
„Um ehrlich zu sein, hättest du mit deiner Stiefmutter irgendeine Ähnlichkeit wäre mir das verdammt unangenehm gewesen. Ich bin jetzt richtig erleichtert."
Darum also war er mir verändert vorgekommen. Wir sprachen noch eine Weile darüber und ich bat ihn dann mit mir zu seinen Eltern zu gehen. Ich wollte es hinter mich bringen und auch ihnen die Zusammenhänge in meinem Elternhaus erklären.
Es war so einfach, mit ihnen darüber zu sprechen, dass ich nicht mehr verstand, warum ich solche Angst davor gehabt hatte. Ich erzählte ihnen von meiner verstorbenen Mutter, von meinen Ängsten und Nöten.
„Für Ängste bin eigentlich ich zuständig", lachte Olivers Mutter und erzählte mir ihrerseits von ihren Ängsten und Panikanfällen, die durch ihre Schwiegermutter hervorgerufen wurden.
Sie war sogar etliche Wochen in einer psychosomatischen Klinik und konnte sich auch gegenwärtig noch nicht ganz von ihren Ängsten lösen. Es gab einige Vergleichbarkeiten zwischen ihr und mir. Sie wurde von ihren Schwiegereltern unterdrückt und nicht ernst genommen, so wie ich von meinen Eltern. Sie erzählte mir, wie sie ihr Selbstbewusstsein erst langsam wiederfand und gelernt hatte, mit den Ängsten besser umzugehen. Die Zusammenhänge würde sie aber noch nicht eindeutig verstehen. Es war schwer für sie, zu begreifen, dass sie auf die Angriffe ihrer Schwiegermutter so empfindlich reagierte.
„Weißt du Marion, ich war immer ein fröhlicher Mensch. Ich liebe das Leben und ich mag Menschen. Deshalb ist es für mich nicht zu begreifen, seelisch derart angreifbar zu sein."
Wir sprachen an diesem Tag lange miteinander. Ihre Anwesenheit tat mir gut. Diese drei Menschen fanden nichts wichtiger, als mir zuzuhören. Es war schön, dass sie sich viel Zeit für mich nahmen. Ich sprach über den Tod meiner Mutter, meine Gefühle, meine Trauer und die Ängste, die mich plagten. Alles sprudelte aus mir heraus. Zum ersten Mal seit dem Tod meiner Mutter öffnete ich mich endlich. Selbst meine Tante, die sich mir gegenüber freundlich verhielt, wusste nichts von der großen Traurigkeit, die mich nach dem Tod meiner Mutter erfasst hatte.
Irgendwann erschrak ich über meine Offenheit. Erst da wurde mir bewusst, Oliver hatte während der ganzen Zeit meine Hand gehalten und gestreichelt. Er war ein richtiger Schatz.
Es war mir nicht angenehm, dass ich mein Innerstes nach außen gekehrt hatte, aber es wurde mir leicht gemacht, mich zu fangen. Hier lachte mich niemand aus. Keiner war da, der mich wegen meiner Gefühle nicht ernst nahm. Im Gegenteil, man verstand mich und ging lieb mit mir um.