<<< Leseprobe " Am Ende steht ein neuer Anfang " >>>
„Liebling, komm bitte zu mir, ich möchte mit dir sprechen.“
Sie schluckte die Tränen, die sich in ihrer Kehle stauten, herunter, und setzte sich zu ihm.
Behutsam nahm er ihre Hand. Er war heute erstaunlich wach und seine Augen weniger trübe wie in den letzten Tagen.
„Ich möchte dir danken für die unendliche Liebe und Geduld, die du mir geschenkt hast. Oft habe ich gesagt, meine Frau ist wie ein Sechser im Lotto. Du bist viel mehr für mich. Wenn ich jetzt sterbe, darfst du dich nicht in deiner Trauer vergraben. Denk an die große Liebe, die uns verbindet, an die vielen schönen Jahre, die wir zusammen mit unserem Sohn verlebt haben. Und selbst die schrecklichen Dinge, die meine Mutter dir angetan hat, hatten etwas Positives. Sie haben uns gezeigt, wie groß unser Gefühl füreinander ist. So groß, dass auch die größten Gemeinheiten nicht in der Lage waren, uns auseinanderzubringen.“
Er konnte nicht weitersprechen, seine Stimme versagte ihm, die Luft war knapp. Sie streichelte zärtlich sein durch die Krankheit stark verändertes Gesicht. Doch seine Augen waren die Gleichen. Sie sahen Julia voller Wärme und Liebe an, so wie sie es kannte.
„Du brauchst nichts zu sagen, ich war mir deiner Liebe immer bewusst, selbst in der Zeit, in der ich schlecht mit mir und meinem Leben zurechtkam und vor dem Alter Angst hatte. Du warst für mich da, wenn ich dich brauchte und dafür danke ich dir.“
„Es wird nicht mehr lange dauern, dann bin ich nicht mehr bei dir. Trotzdem werden wir durch unser Gefühl immer miteinander verbunden sein.
Vom Himmel herunter wache ich über dich, damit es dir gut geht.“
Julia lächelte bei diesen Worten. Nils hatte einen festen Glauben. Für ihn war klar, irgendwann würden sie sich im Himmel wieder treffen.
Sie selbst glaubte nicht an Gott. Obwohl sie sich manchmal wünschte, auch an diese Dinge glauben zu können. „Uns kann niemand trennen, da hast du recht, auch der Tod nicht. In meinen Gedanken und in denen der Kinder wirst du weiterleben, so wie meine Großmutter Gretchen.“
„Versprich mir, kein Schwarz an meiner Beerdigung zu tragen, die Farbe steht dir nicht. Sie ist zu traurig für meine fröhliche Frau.“
„Nils, ich verstehe dich nicht, du planst über deinen Tod hinaus. Macht es dir nichts aus, zu sterben?“
„Aber mein Liebling, natürlich macht es mir etwas aus. Ich möchte gerne zusammen mit dir und den Kindern leben. Aber ich wehre mich nicht mehr. Die Schmerzen werden immer schlimmer und durch die Medikamente bin ich ständig benebelt. Mein Körper ist verbraucht. Ich habe vor dem Tod keine Angst. Mein Leben war durch dich und die Kinder ausgefüllt. Ich möchte nur noch in Würde sterben und die schrecklichen Schmerzen loswerden. Bitte, Julia, lass nicht zu, mich in ein Krankenhaus zu bringen, um dort mein Leben künstlich zu verlängern. Ich spüre, mein Leben ist zu Ende.“
„Du kommst in kein Krankenhaus, das habe ich mit Doktor Klüver schon abgesprochen, du bleibst bei mir. Ich werde es nicht zulassen, das verspreche ich dir.“
„Danke meine Prinzessin“, hauchte er und schlief ein.
Bis zum frühen Abend, als der Arzt kam, um ihn zu versorgen und ihm seine Schmerzmittel zu geben, wachte er nicht auf. Bei der Verabschiedung sagte der Doktor an der Tür zu Julia: „Es wird nicht mehr lange dauern. Rufen sie mich zu jeder Zeit an. Wir geben ihrem Mann dann so viel Schmerzmittel, dass er nicht leiden muss. Morgen früh bin ich zur gewohnten Zeit wieder hier. Auf Wiedersehen, Frau Ehrenfeld, und eine gesegnete Weihnacht.“
„Danke, ihnen auch, lieber Doktor.“
‚Gesegnete Weihnacht, der Doc ist gut’, dachte sie ‚wo ist dieses Fest gesegnet?’
Der Heiligabend verlief ruhig und friedlich. Nils war recht schmerzfrei und wie schon am Nachmittag angenehm ausgeglichen. Sie tauschten kleine Geschenke aus, spielten mit den Kindern und selbst Nils aß ein wenig von dem Hühnerfrikassee, das Julia zubereitet hatte.
Kai-Ole hatte eine CD mit Weihnachtsliedern mitgebracht und am Vortag extra noch einen CD-Player gekauft. So konnten sie Weihnachtslieder hören und zum Teil auch mitsingen.
Nach zwei Stunden bat Nils darum, ihn ins Bett zu bringen. Gemeinsam trugen sie ihn die beiden Stufen zu den Schlafzimmern hinauf.
Mit Unterstützung ihres Sohnes wusch Julia ihn und bettete ihn in frische
Bettwäsche. Miriam spielte derweil mit den Kindern. Obwohl Nils inzwischen leicht wie eine Feder war und nur noch aus Haut und Knochen bestand, war Julia nach dieser Arbeit erschöpft. Ihrem Mann zeigte sie dennoch ein freundliches Gesicht. Er sollte niemals das Gefühl haben, für sie eine Last zu sein.
Nils schlief schon fast, als er noch hauchte: „Ich liebe dich, meine Prinzessin, vergiss das nicht.“
Kai-Ole drückte seine Mutter ganz fest in den Arm und versuchte, ihr durch seine Nähe Trost zu spenden.
Als auch die Enkelkinder im Bett waren, saßen sie noch zusammen und sprachen über die vergangenen Weihnachten, als Nils noch gesund war. Sie dachten daran, wie sehr er Wert darauf gelegt hatte, alles ganz geheimnisvoll zu machen. Und sie lachten und erfreuten sich daran, wie schön Nils die Feste immer gefunden hatte.
In der Nacht war Julia auffällig unruhig, ein eigenartiges Gefühl nahm sie gefangen. Sie konnte nicht beschreiben, was sie fühlte, sie wusste nur, es würde etwas passieren. Früh am Morgen stand sie auf.
Es war ihr achtundvierzigster Geburtstag. Im Bad schaute sie in den Spiegel. Sie blickte in das Gesicht einer traurigen Frau, deren Augen jeden Glanz verloren hatten. Die Haut war grau, die Haare stumpf. Sie duschte ausgiebig, föhnte sich die Haare und legte nur wenig Make-up auf. Ein Hauch Lippenstift auf die Lippen und schon wirkte ihr Gesicht frischer und jugendlicher.
Angezogen mit einem schicken Kleid ging sie zurück in ihr Schlafzimmer, setzte sich an Nils Bett und ergriff seine Hand. Sie wollte ihm nah sein, denn sie spürte, lange würde sie seine Nähe nicht mehr genießen können.
Nur kurz öffneten sich seine Augen. „Alles Liebe zu deinem Geburtstag.“ Seine Stimme war so schwach, Julia konnte ihn kaum verstehen. „Es tut so weh, hilf mir bitte“, flehte er.
Julia sprang auf und rannte zum Telefon.
„Doktor, mein Mann hat sehr starke Schmerzen. Noch nie hat er mich um Hilfe gebeten, weil er seine Schmerzen nicht ertragen konnte.“
Es dauerte kaum fünf Minuten, da stand Dr. Klüver vor der Tür. Er gab ihm die erlösende Spritze, Nils Schmerzen ließen nach. „Er ist ein sehr starker Mann. Seine Schmerzen müssen manchmal höllisch sein, aber er beklagt sich nie, um sie zu schonen.“
„Das hat er sein ganzes Leben lang für mich getan. Er war immer für mich da.
Wie lange wird er sich noch quälen müssen?“
„Ich glaube nicht mehr lange. Bis später, Frau Ehrenfeld.“
Inzwischen waren auch ihre Kinder aufgestanden und halfen, Nils frisch zu machen.
Noch einmal schlug er die Augen auf und flüsterte: „Ihr seid mein ganzes Glück.“
Diese Worte waren die letzten, die er an diesem Tag sprach.
Er wachte an ihrem Geburtstag nicht noch einmal auf.